Das Unabhängige Jugendzentrum Kornstraße in Hannover blickt auf eine lange Geschichte zurück: Am 19.08. feiert das Zentrum sein 45-jähriges Bestehen. Seit seinen Anfängen 1972 ist „die Korn“ Teil hannoverscher Stadtkultur. Im Reiseführer wird das Jugendzentrum als Veranstaltungsort erwähnt. Eine Konstante in all den Jahren ist die Volxküche.
von Simone Schumann
Der große schummerige Kneipenraum der „Korn“ ist voll. Circa 30 Wartende allen Alters stehen am Montagabend pünktlich um 19.00 Uhr Schlange. Sie warten geduldig darauf, dass Dani und Anna das Essen ausgeben. Leises Stimmengewirr erfüllt den Raum – die Unterhaltungen drehen sich um die anstehende Bundestagswahl und die Erlebnisse des vergangenen Wochenendes. Dann geht es los: reichlich gefüllte Teller werden nebeneinander auf dem Holztresen angerichtet. Dani begrüßt die Gäste freundlich, nimmt Getränkebestellungen entgegen und kassiert die 1,50 Euro für eine Mahlzeit. Dabei ist sie gut gelaunt und ihre Freude an dem was sie tut ist unverkennbar. Als sie 2011 als Gast die Vokü – wie die Volksküche unter Besucher*innen genannt wird – besuchte, bekam sie Lust, selbst mit zu kochen: „Ich fand das Konzept der Vokü schon immer toll.“ Mit ihrer Begeisterung steckte sie ihre Freundin Anna an. Nun kochen sie zu dritt in der Kochgruppe „Hedwig“. Sie schmunzeln: Ein Insider, denn Hedwig ist der Name des dienstältesten Kochs der Gruppe. So nennen wir uns scherzhaft, sagen sie, einen richtigen Namen haben wir nicht.
Gekocht wird im Gegensatz zu den 80er Jahren nur noch vegan an einem professionellen Großküchenherd. In den Anfänge der Vokü bestand das Inventar aus zwei alten Küchenherden auf denen regelmäßig Schweinekottelet zubereitet wurde. Die Köch*innen eigneten sich damals die Zutaten für das Essen auch mal sehr erfinderisch an: zunächst wurde Joghurt organisiert. Ein Aktivist berichtet wie kreativ vorgegangen wurde. Joghurt verschwand während der Supermarktbelieferung von der Ladefläche: „der LKW kam lud aus und wir luden ein“. Hinterher wurde der erbeutete Joghurt auf dem Lande gegen Schweinekoteletts eingetauscht. Eine hungrige Meute von bis zu 50 Leuten hing am Tresen und brüllte: wir brauchen Fleisch! Irgendwann setzte sich dann das Konzept der strukturierten Warteschlange durch und es tauchten Mitte der 90er die ersten Veganer*innen und Vegetarier*innen aus der subkulturellen Konzertszene in der Vokü auf. Damit ging die Ära des Fleischkonsums in der „Korn“ zu Ende. Nicht nur der Speiseplan änderte sich, sondern auch die Atmosphäre. In den 70er und 80er war das Jugendzentrum ein Raum der Alltäglichkeiten. Die Türen standen 24 Stunden offen. Es gab Sessel und Sofas, um die sich herum Pizzaschachteln türmten während im Hintergrund der Fernseher lief. Wohnzimmeratmosphäre. Zur Straße hin, hatte ein Café täglich geöffnet: morgens gab es Frühstück und abends tobte hinten der Punk. Es war ein wichtiger Bestandteil des 1972 im Rahmen der Jugendarbeitsbewegung gegründeten Unabhängigen Jugendzentrum Kornstraße.
Heute sind es vor allem die Montag- und Mittwochabende an denen für alle Hungrigen und Nicht-Hungrigen die Tür offen steht. Für die Besucher*innen und Köch*innen spielt neben dem Essen der Austausch und das Zusammenkommen eine wesentliche Rolle. Die Vokü ist ein Ort der sozialen Reproduktion. So sieht es auch Hendrik, der im Hof unter einem Baum auf einer Holzbank sitzt, einen Rucksack zwischen den Beinen. Er hat ein frischgekühltes Bier in der Hand. Er ist heute hier, um seine Freund*innen zu treffen. Um ihn herum sitzen ins Gespräch vertiefte Gäste. Anders als Hendrik haben sie einen Teller vor sich auf dem Tisch oder sitzen am Boden und balancieren ihren Teller auf den Oberschenkeln. Sie verzehren das Saitangeschnetzelte in Sahne Soße mit Kartoffeln und dazu Rohkost Salat. Einige kommen weil sie Hunger haben und es eine günstige warme Mahlzeit gibt. „Das Essen schmeckt meistens auch lecker“, sagt Hendrik lächelnd. Dass das heute zutrifft bestätigen später, nachdem es für einige nochmal Nachschlag gab, jede Menge leerer Teller und zufriedene Gesichter. Während die Menge an Gästen übersichtlicher wird, hat die Vokü-Gruppe „Hedwig“ noch einiges zu tun: Abwaschen, Aufräumen, Wischen und Abschließen. Nach sieben Stunden ehrenamtlicher Tätigkeit geht dann auch die Kochgruppe „Hedwig“ in ihren wohlverdienten Feierabend. Auf die Frage, warum sie so viel Zeit und Arbeit investieren antworten sie: Zuerst einmal aus Freude am Kochen aber auch weil es ihnen wichtig sei, selbst etwas für das Kollektiv zu tun. Das vermittle ihnen das Gefühl nicht nur Gäste des Ladens, sondern auch ein Teil dessen zu sein. Der Wunsch, etwas für andere zu tun, bringt hier viele dazu, sich mit Zeit und Energie in die „Korn“ einzubringen. Damals wie heute ist dieser Ort ein sozio-kultureller Raum an dem viel mehr als Politik gemacht wird.
Das seit 45-Jahren existierende Unabhängige Jugendzentrum ist eines der ältesten in Deutschland. Das rot-grün-blau gestrichene Haus bietet politisch-emanzipatorischen Projekten einen Raum: Konzerte, Partys, politischen Veranstaltungen, der Baby – und Kinderladen und die Vokü. Wertgeschätzt wird das im Stadtteil fest verankerte Zentrum nicht nur von Besucher*innen, sondern auch von Gegner*innen. Im Laufe der Jahrzehnte kam es immer wieder zu politischen Auseinandersetzung um das Zentrum, aber auch zu wohlwollender Anerkennung seitens der Stadtpolitik. So wurde das UJZ Kornstraße für seine Arbeit von der Stadt Hannover ausgezeichnet.
Der langjährige Aktivist Dirk führt zwei Zitate an, die für ihn treffend die „Korn“ beschreiben. Das eine stammt von Roman Herzog und steht auf der Urkunde, die dem UJZ Korn als Auszeichnung seitens der Stadt überreicht wurde: „Unsere Gesellschaft wäre ohne ehrenamtlich tätige Menschen nicht nur ärmer und kälter, sondern sie wäre auch weniger funktionsfähig.“ – und Hannover wäre um einen das Stadtbild prägenden Ort ärmer. Dirk ergänzt die Worte noch grinsend um ein Marx Zitat„ […] alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist!“